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20.04.2024
01.03.10

Das Hin und Her um die Piusbruderschaft

Kategorie:
Nachrichten, Na Priesterbild, Na Restauration in der kath. Kirche

von prof. em. karl schlemmer

Was uns katholische Christen vor einem Jahr beschäftigte und worüber wir schlechterdings bis heute nicht schweigen können und dürfen, ist die Tatsache, dass sich unsere Kirche, vertreten durch den Papst, Ende Januar 2009 mit vier Bischöfen versöhnt hat - die Aufhebung der Exkommunikation ist kirchenrechtlich ein Akt der Versöhnung - , die das Zweite Vatikanische Konzil nicht anerkennen, die Reinigung der liturgischen Texte von Antijudaismen nicht mit nachvollziehen und von denen mindestens einer sogar den Holocaust leugnet.

Was mich besonders ärgert und immer noch auf die Palme bringt, ist die Tatsache, dass bei dieser Aktion vom Vatikan sogar das Kirchenrecht missachtet wurde. Denn dieses sieht vor, dass die Exkommunikation nur dann aufgehoben werden kann, wenn die Exkommunizierten feierlich und verbindlich das zurücknehmen, was ihren Ausschluss veranlasst hatte, es muss also echte Reue und Umkehr vorhanden sein. Das aber kann man beim besten Willen von den Piusbrüdern nicht sagen, von denen welche jetzt sogar frech zum Marsch auf Rom blasen, das »bekehrt« werden muss, indem die katholische Kirche alle Irrlehren widerruft, denen sie seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil anhängt.

Wer aber sind nun diese Piusbrüder? Das Zweite Vatikanische Konzil tagte von 1962 bis 1965 und gab 16 Dokumente heraus, die vielfach nach hartem theologischen Ringen formuliert wurden und durchaus den Charakter von Kompromissen an sich tragen. Bei den Schlussabstimmungen gab es stets einige wenige Gegenstimmen, doch mit rund 98-99% überwogen eindeutig die Befürworter. Ab dem Jahr 1969 meldete sich nun einer, der zur konservativen Gruppe am Konzil gehörte, der französische Erzbischof Marcel Lefebvre, zusammen mit anderen Traditionalisten massiv und aggressiv zu Wort und baute eine intolerante Kampforganisation gegen »Modernismus und Liberalismus« auf, der jeder Gedanke an Respekt vor Andersgläubigen fremd war und bis heute fremd ist.

Gründer der Piusbruderschaft war also der Spiritaner Marcel Lefebvre, der 1947 zum Bischof geweiht, 1948 apostolischer Delegat für das östliche Afrika und 1955 Erzbischof von Dakar (Senegal) wurde. Er arbeitete mit in der Zentralkommission zur Vorbereitung des Konzils. Was dort erarbeitet wurde, ist größtenteils in die Konzilstexte nicht eingegangen. Lefebvre war vom Konzil sehr enttäuscht und erkannte viele seiner Ergebnisse nicht an. Die von ihm im Jahr 1969 gegründete Bruderschaft erhielt 1970 die kirchliche Anerkennung, was die Eröffnung eines Priesterseminars im französischsprachigen Teil des Schweizer Kantons Wallis (Valais) zur Folge hatte. Weil Lefebvre weiterhin bei der Ablehnung vieler Konzilsbeschlüsse und deren Geißelung als  »neomodernistische« und »neoprotestantische« Aussagen verharrte, wurde der Gemeinschaft 1975 die kirchliche Anerkennung entzogen. Dennoch weihte Lefebvre 1976 Priester und Diakone und beschwor damit ein Schisma herauf. Daraufhin erfolgte seine Suspension als Bischof.

Vordergründig polemisierte man gegen die erneuerte Liturgie, aber hinter dieser Ablehnung verbarg sich die Verneinung wesentlicher Konzilstexte und -aussagen wie z. B. die Kirchenkonstitution »Lumen gentium«, die Erklärung über die Religionsfreiheit, das Dekret über den Ökumenismus oder die Pastoralkonstitution »Gaudium et spes«. Ebenso ist die Erklärung »Nostra aetate« über das Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen aufgrund des in dieser Kampftruppe vorhandenen Antisemitismus für sie inakzeptabel. Man bezeichnete sich als Bruderschaft des hl. Papstes Pius X., der zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Modernismus radikal bekämpfte und den Antimodernisteneid einführte, den alle angehenden Priester, so auch ich, schwören mussten, bis ihn Papst Paul VI. wieder abgeschafft hat. Ihr Zentrum richteten die Piusbrüder in dem kleinen Dorf Ecône im Schweizer Kanton Wallis ein, auf der Südseite des Rhonetales zwischen Sion und Martigny. Diese Piusbrüder wollen keine Demokratie, sondern eine strenge Gottesherrschaft. Rom hat in den 70er und 80er Jahren in intensiven Gesprächen immer wieder versucht, diese Bruderschaft auf den konziliaren Weg zu bringen. Doch alles war vergebens. Als dann Erzbischof Lefebvre 1988 daran ging, zur Sicherung seiner Nachfolge Bischöfe ohne das Einverständnis des Papstes zu weihen, schrillten in Rom die Alarmglocken. Trotz der römischen Warnungen vollzog Lefebvre an vier Kandidaten seiner Bruderschaft die Bischofsweihe, was automatisch nach Kirchenrecht als Tatstrafe die Exkommunikation des Konsekrators wie der vier Kandidaten nach sich zog. Und damit wurden diese Piusbrüder zu Schismatikern, zu einer anderen Kirche. Der Vollständigkeit halber muss jedoch erwähnt werden, dass ein kleiner Teil der Bruderschaft den Weg ins Schisma nicht mitzugehen bereit war, sich abspaltete und als Petrusbruderschaft sich in Wigratzbad bei Wangen im Allgäu niederließ und dort erzkonservatives Gedankengut in Liturgie und Verkündigung unter die Leute zu bringen versucht.

Im Jahr 1991 stirbt Lefebvre, was der Hoffnung auf Rückkehr der Bruderschaft in die Kirche Auftrieb gab. Bereits im Jahr 2005  -  also im Jahr seiner Wahl  -  empfängt Papst Benedikt XVI. den Leiter der Bruderschaft. Als der Papst im Jahr 2007 die Messe nach tridentinischem Ritus wieder zuließ, sah die Bruderschaft eine ihrer zentralen Forderungen erfüllt. Eine vom Papst vorgelegte Fünf-Punkte-Erklärung unterschrieb die Bruderschaft jedoch nicht. Als am 15. Dezember 2008 deren Leiter, Bischof Fallay, den Papst um Rücknahme der Exkommunikation bittet  -  unter Betonung der Katholizität der Bruderschaft und der Anerkennung des Papstamtes  -  entspricht der Papst dieser Bitte und erfüllt damit eine weitere zentrale Forderung der Bruderschaft.

Die Aufhebung der Exkommunikation, deren Ziel die Umkehr und Besserung ist, hebt das Schisma infolge der Verweigerung der vollen Unterordnung unter den Papst und die Aufkündigung der kirchlichen Gemeinschaft nicht auf. So sind die Messfeiern der Bruderschaft im kirchlichen Sinn gültig, da deren Priester gültig geweiht worden sind, Katholiken ist es jedoch nicht erlaubt, daran teilzunehmen. Dem Papst aber kann, wie er selbst betont, eine Gemeinschaft mit fast 500 Priestern (davon 50 in Deutschland), 215 Seminaristen, 6 Seminarien, 117 Brüdern und 164 Schwestern und zudem 88 Schulen, zwei Universitätsinstituten, caritativen Häusern und Aktionen sowie einer Jugendbewegung nicht gleichgültig sein.

Die theologischen Ansätze der Bruderschaft fußen auf Lefebvre, der gefordert hat, an dem festzuhalten, was die Kirche aller Zeiten geglaubt und praktiziert hat. Dieser alte Glaube der Kirche sei im Konzil aufgegeben und durch einen Neuglauben ersetzt worden. Schwerwiegende Einwände hat Lefebvre insbesondere gegen die bereits genannten fünf Dekrete des Konzils. Ein Dorn im Auge ist ihm, was die Konstitution über die Kirche angeht, die Betonung der Kollegialität der Bischöfe. Darin sieht er eine Demokratisierung, welche die Autorität des Papstes in Frage stellt.

Was die Liturgie betrifft, besitzt laut Lefebvre das 1570 von Papst Pius V. herausgegebene Missale Romanum eine immerwährende Gültigkeit. Papst Paul VI. hat durch die Erneuerung der Liturgie seine Macht missbraucht; deshalb ist ihm hier kein Gehorsam zu leisten. Zudem verdunkelt die neue Messe den Opfercharakter zugunsten des Mahlcharakters.

Dabei wird viererlei übersehen:

  • Papst Johannes XXIII. hat 1962 das Missale Romanum neu herausgegeben und dabei bereits einiges verändert.
  • Papst Pius V. hat 1570 die Liturgie nicht unwandelbar festgelegt; ihre Veränderung  liegt immer in der Kompetenz der Päpste.
  • In der Messfeier wird nicht ein neues Opfer dargebracht oder vollzieht sich die unblutige Erneuerung des Kreuzesopfers. Vielmehr wird entsprechend der Mysterientheologie des Benediktiners Odo Casel das Erlösungswerk Christi, also sein Leben, Leiden, Sterben, seine Auferstehung und Verherrlichung geheimnishaft gegenwärtig.
  • Letztendlich sind Ausgangspunkt und Grundlage für die Überzeugungen der Bruderschaft das Konzil von Trient (1545-1563) und nicht die Kirche, wie sie immer war. Von daher ist die konziliare Liturgieerneuerung viel »traditioneller«, da sich ihre theologischen Grundlinien speisen von der gottesdienstlichen Praxis der ersten Jahrhunderte.

Vorbild für diese Priesterbruderschaft ist, wie bereits vermerkt, Papst Pius X. (1903-1914), der den Modernismus mehrfach verurteilt und den Antimodernisteneid der Priester verordnet hat. Die Modernisten seien, so dieser Papst, gefährlicher als alle äußeren Feinde der Kirche, da sie von innen her handeln würden. Übersehen wird dabei allerdings von dieser Bruderschaft, dass dieser Pius X. die actuosa participatio fidelium, die aktive Mitfeier der Gläubigen in der Messe angestoßen und dabei Grundlagen für das Zweite Vatikanische Konzil gelegt hat. Am Rande sei hier hingewiesen auf die einleitenden Sätze in den Einführungstexten zum jeweiligen Messbuch: Im Missale Pius` V. steht zu lesen: Sacerdos celebraturus missam (Wenn der Priester sich anschickt, die Messe zu feiern); und im Missale Pauls VI. finden wir: Populo congregato (Die Gemeinde versammelt sich). Zwischen diesen beiden Aussagen klaffen theologisch Welten. Letztere hat bei den Vorgaben Pius` X. mit ihren Grund.

Entscheidend für die Modernismuskritik der Piusbrüder ist letztendlich deren Verständnis von Wahrheit. Diese findet ihren Ausdruck in Sätzen, die für immer gültig sind; die Wahrheit wird also förmlich besessen. Demgegenüber muss festgehalten werden, Gott ist größer als alle Begriffe. Christus darf eben nicht als Gegenstand behandelt werden, der sich eindeutig bestimmen und tradieren lässt. Christus selbst ist die Wahrheit, deshalb sind alle Begriffe unzulänglich. Eine ganz bestimmte historisch gewachsene Formulierung darf nicht verabsolutiert werden. Es ist nämlich ein gewaltiger Unterschied, ob ein Buch oder eine Person Grundlage der Wahrheit ist. Wenn es ein Buch ist, besteht immer die Gefahr, dass der Wortlaut verabsolutiert wird. In Aktion und Dialog, auch mit nichtchristlichen Religionen, ist aber immer wieder Neues über Jesus Christus zu erfahren. So unerschöpflich die Wahrheit, so konkret ist sie in Christus zu erfahren. Die Piusbrüder aber versuchen, Christus »einzufrieren« durch Ordnung und Anordnung und Definition dessen, was drinnen und draußen und unten und oben ist. Sie schwingt sich sozusagen auf zum Herrn über Jesus Christus, sie will über ihn verfügen.

Der Zeitpunkt der »Versöhnung« mit den Piusbrüdern, einige Tage vor dem Gedenktag der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar, war für die Opfer des Antisemitismus und Holocaust sowie für ihre Angehörigen besonders schmerzhaft. Nach wenigen Wochen der vielfältigen Aufschreie, verunglückter Rechtfertigungsversuche von Seiten des Vatikans und Enthüllungen über die Piusbruderschaft stehen wir immer noch vor einem Scherbenhaufen. Es ist erstaunlich, wie viel in einer solch kurzen Zeit kaputtgehen kann.

Ein alter Grundsatz in der Kirche lautet: »Sentire cum ecclesia«, zu deutsch: »Mitfühlen, mitdenken mit der Kirche«. Für mich als Katholik, als Theologen und als katholischen Priester bedeutet dies in solchen Zeiten, dass ich mich einerseits nicht einfach von der Entscheidung des Papstes distanzieren kann wie ein kirchendistanzierter Beobachter oder wie ein Nichtkatholik. Andererseits kann ich diese Entscheidung nicht verstehen und akzeptieren, mehr noch: Alle Versuche, sie mir selbst verständlich zu machen, scheitern oder führen mich vor Abgründe.

Es wird darauf hingewiesen, dass der Papst die Holocaust-Leugnung verurteilt, er hat dies mehrfach betont, und dass gerade das positive Verhältnis zum Judentum ein Herzstück seiner Theologie ist. Ja, das ist richtig, aber das macht die ganze Sache nur noch rätselhafter. Die Entscheidung spricht eine andere Sprache als die Worte, und im Ernstfall zählen Taten immer mehr als Worte.

Uns bleibt die Frage: Was können wir katholische Christen in dieser Situation tun? Viele Katholiken neigen deshalb zur Resignation. Sie wollen die Kirche verlassen, und viele haben das inzwischen auch getan; so sind im Februar 2009 die Austrittszahlen rasant in die Höhe geschnellt. Diese Katholiken geben die Hoffnung auf, dass sich in unserer Kirche noch etwas bewegen könnte außer in der unbegreiflichen Anbiederung in Richtung auf eine verstockte Bruderschaft, die ihr auf der Nase herumtanzt und in deren reaktionärem, antisemitischem Sumpf Holocaust-Leugner gedeihen. Ich möchte dagegen die Parole setzen: »Auftreten, nicht austreten!«  Es wäre fatal, die Kritik an dieser Entscheidung den Kirchenfeinden zu überlassen  -  also denen, die mal wieder alle ihre Vorurteile bestätigt sehen und triumphieren.

Es gibt eine lieblose Kritik, und es gibt eine Kritik aus Liebe. Schweigen kann auch ein Zeichen für einen Mangel an Liebe sein. Einfach das Unangenehme und Schmerzliche wegschieben, weitermachen wie bisher, den Kopf in den Sand stecken und warten, bis der Sturm vorüber ist  -  das alles hat nichts mit dem »sentire cum ecclesia« zu tun, wie es die Heiligen der Kirchengeschichte verstanden. Es gibt ein Schweigen aus Loyalität, es gibt aber auch einen Widerspruch aus Loyalität. Und der ist jetzt gefordert. Nur wenn wir Katholiken nach innen hin offen sind, d. h. dort in der Kirche Widerspruch leisten, wo es nötig und wichtig ist, können wir auch ungeteilten Herzens in der Feier der Eucharistie unsere »Einheit mit dem Papst, unserem Bischof und allen Bischöfen« aussprechen, wie wir es im Hochgebet jedes Mal tun.

Schließlich gibt es ein Stichwort, das mir damals vor einem Jahr öfters in den Sinn gekommen ist: »Weltfremdheit«. Die Kirche scheint mir sehr in der Gefahr, weltfremd zu werden. Es gibt eine »Weltfremdheit«, die gefährlich ist. Alfred Delp, ein Jesuit und Mitglied des Kreisauer Kreises im Widerstand gegen Hitler, der am 02. Februar 1945 in Berlin-Plötzensee von den Nazischergen hingerichtet wurde, hat das für die Kirche in seiner Weihnachtsmeditation aus dem Gefängnis unter dem Stichwort »die Amtsstuben« beschrieben: »Die Ämter der Kirche sind innerlich vom Geist geführt und verbürgt. Aber die Amtsstuben! Und die verbeamteten Repräsentanten! Und die so unerschütterlich-sicheren `Gläubigen`! Sie glauben an alles, an jede Zeremonie und jeden Brauch, nur nicht an den lebendigen Gott.....Im Namen Gottes? Nein, im Namen der Ruhe, des Herkommens, des Gewöhnlichen, des Bequemen, des Ungefährlichen. Eigentlich im Namen des Bürgers, der das ungeeignetste Organ des Heiligen Geistes ist«.

Die Kirche ist nun mal in der Welt. Zu meinen, man könne sich mit Worten, abstrakten Unterscheidungen und mit Totschweigen des entscheidenden Punktes aus den vielfältigen Entwicklungen herauslösen, in denen man steht, dies ist weltfremd. Diese Weltfremdheit ist keineswegs ein kurioser Anachronismus, sondern gefährlich, so wie ein Geisterfahrer sich und andere gefährdet, gerade dann, wenn er alle entgegenkommenden Autos für Feinde hält. Es sollte uns zu denken geben, wenn Papst und viele Kirchenleute meinen, die Welt sei uns feindlich gesinnt. Das eigentliche Problem sind vielleicht sie selbst.

Und Papst und Kurie sind in der Tat weltfremd. Indem Benedikt XVI. die exkommunizierten Piusbrüder wieder in die Kirche integriert, rehabilitiert er ihr Kirchenverständnis: und das ist herrisch, intolerant, der Ökumene gegenüber verschlossen, wenig empfänglich für die Freiheits- und Menschenrechte. Als wir im Oktober letzten Jahres zum Bergwandern im Wallis waren, wurde die 89jährige Mutter unserer Gastgeber ziemlich heftig, als ich den Namen des nicht weit entfernten Ecône erwähnte, und sagte: »Diese Leute sind unbarmherzig und predigen nur Angst, Teufel und Hölle«. Kurz, das wäre eine reaktionäre Kirche, die in die Bronze des 19. Jahrhunderts oder noch früher gegossen ist. Und so frage ich: Ist dies das, was wir Katholiken heute in Lateinamerika, in Afrika, in Asien oder in Europa brauchen? Ist dies die richtige Antwort auf die Entchristlichung hier bei uns, auf den Nihilismus und Relativismus, welche die Albträume des Joseph Ratzinger bevölkern? Wohl nicht! Der brillante Intellektuelle Benedikt XVI. thront mit dem Großteil seiner Kurie auf einer Höhe, die ihnen eine Verbindung zur wirklichen Welt verunmöglicht  -  nämlich dort, wo die Masse der Getauften verkümmert, weil die Botschaft unverständlich geworden ist  -  und dort, wo 90% der Katholiken so gut wie nicht mehr zum Sonntagsgottesdienst kommen und in ihrer Glaubensnot immer mehr von der Kirche wegdriften  -  und schließlich dort, wo die engagierten Christen sich als Glaubende in einer säkularisierten und entchristlichten Gesellschaft als Glaubende zeugnishaft einzubringen versuchen.

Es dürfte ja bekannt sein, dass Papst Johannes XXIII. auf dem Sterbebett elf Tage vor seinem Tod ungemein eindringlich und auffallend von den »Zeichen der Zeit« sprach, die wahrgenommen werden sollten. In Fortführung dieses päpstlichen Hinweises hat das Vaticanum II in seiner Pastoralkonstitution »Gaudium et spes« der kirchlichen Seelsorge zur Pflicht gemacht, die »Zeichen der Zeit« zu erkennen und zu berücksichtigen. Darunter sind sicher nicht Modeströmungen des Zeitgeistes zu verstehen, die der Wind heranträgt und wieder verbläst. Ein populistisches Zeitgeist-Christentum würde bald zu einem Seifenblasen-Glauben verkommen, der schillert, platzt und vergeht. Beliebigkeit wäre keine brauchbare Antwort auf die Glaubenszweifel und die Transzendenzsehnsucht heutiger Menschen. Aber eine Kirche, die sich aus Ängstlichkeit und Machterhalt demonstrativ der Moderne verschließt, trüge nicht weniger einen Todeskeim in sich. Echte, unaufhaltsame Strömungen müssen von der pastoralen Praxis an- und aufgenommen werden.

Nicht jeder, der in diesen Zeiten die Kirche kritisiert, hat von sich aus schon recht. Aber daraus folgt nicht, dass es keinen Anlass gäbe, nachdenklich zu werden über uns selbst als Kirche. Es wäre ein Gewinn für die Kirche und für die Welt, wenn aus der fatalen Entscheidung des Vatikans ein geistvolles Nachdenken erwachsen würde, wenn man wieder mehr über das Zweite Vatikanische Konzil reflektieren und die großartige, weitschauende Eröffnungsansprache von Papst Johannes XXIII. vom 11. Oktober 1962 durchmeditieren würde. Dann hätte der Heilige Geist auch auf dieser krummen Zeile von Papst und Kurie etwas Gerades geschrieben. Dass er das kann, daran glaube ich fest. In dieser Ansprache hielt Papst Johannes XXIII. u. a. folgendes fest:

Im weiteren Verlauf umreißt der Papst die Aufgaben der konziliaren Lehrverkündigung. Selbstverständlich muss die katholische Lehre integral bewahrt werden; sie gilt Johannes als Aber sie muss weiter Dann fährt er fort:

Das Konzil sollte nach Papst Johannes XXIII. für die Kirche, so steht es in der italienischen Urfassung dieser Eröffnungsansprache, »ein Sprung nach vorn« werden. Doch in diesem Sprung nach vorn ist sie bislang nach Bischof Helmut Krätzl ziemlich gehemmt. Und, so darf man besorgt fragen, bringen die Verhandlungen der Glaubenskongregation mit der Piusbruderschaft vielleicht dann gar »einen Sprung zurück«, wobei u. a. diese Aussagen von Papst Johannes XXIII. einfach ignoriert werden? Denn die Treffen verlaufen, wie es der Traditionalistenbischof Alfonso de Galarreta in einer Predigt sagte, gut. »Man spreche eine gemeinsame Sprache und gehe von Gemeinsamkeiten aus, nicht von Konfliktpunkten« (Kipa, Schweiz, vom 29. Dezember 2009). Solche Äußerungen können bei allen, denen das Vatikanum II für ihren Glauben existentiell wichtig ist, ein flaues Gefühl erwecken. Und sie lassen fragen, werden hier nicht neue Spaltpilze gelegt?

Abschließend sei an ein Diktum der deutschen Schriftstellerin Luise Rinser erinnert: »Krisen sind Angebote des Lebens, sich zu wandeln. Man braucht noch gar nicht zu wissen, was neu werden soll; man muss nur bereit und zuversichtlich sein«. Denn der Herr der Kirche ist nicht der Papst, sondern allein unser Herr und Bruder Jesus Christus.   

Univ.-Prof. em. Dr. Karl Schlemmer

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Vortrag beim Katholischen Erwachsenenbildungswerk der Diözese Eichstätt

(13. Januar 2O1O)